QUERIDA
Vom Leid und der Selbstermächtigung einer Puppe
Prof Dr Melanie Möller über QUERIDA
Querida – der Titel dieser romantisch anmutenden phantastischen Erzählung ist treffend gewählt und in sprechender Weise programmatisch. Er birgt die verschiedensten Formen der Sinnlichkeit sowie des – durchaus nicht nur menschlichen – Begehrens in sich und externalisiert sie zugleich, indem er sie auf einen bündigen Begriff bringt, den der „Geliebten“. Auch in den so originellen wie subtilen Kapitelüberschriften entfaltet sich diese sinnliche Vielfalt. In die Spannung einer mysteriösen Buchstäblichkeit sind die großen und kleinen Themen der condicio humana eingeflochten, des menschlichen Lebens in gesellschaftlicher, kultureller, politischer und nicht zuletzt sinnlich-erotischer Perspektive, wobei auch religiöse Elemente aufscheinen. Wir verfolgen die Geschichte einer Frau, die zwischen ihrer Existenz als hölzerner Marionette und Menschenfrau changiert und dabei vor allem um ihren Status kämpft, den Status der Befreiung eines Opfers vom Leid, ihre Selbstermächtigung, wie es auch der Untertitel des Buches ausbuchstabiert. Damit passt das Werk ganz besonderes gut in unsere Zeit, in der die Opferrolle der Frau trotz allen emanzipatorischen Engagements doch noch immer eine überaus prominente Rolle einnimmt: Der Text führt einerseits vor, dass diese Opferrolle zur (auch imaginierten) Lebenswirklichkeit gehört, er übersteigert sie in der Puppengestalt sogar; zugleich zeigt er aber in souveräner Deutlichkeit, wie es gelingen kann, die Rolle abzulegen bzw. sie als bloße ‚Rolle‘ zu markieren, sich davon zu distanzieren, und zwar auf vielfältigen Wegen. Das glückt der hölzernen Heldin durchaus nicht ganz ohne Unterstützung durch ein soziales Netz, doch verlangt es ihr auch nicht den Verzicht auf die weibliche selbstbewusst-sinnliche Erotik ab. Dabei ist Querida zugleich eine Wissende, sie ist auch ein hochreflexives Geschöpf, soweit die Dichte der Ereignisfolge in ihrem Leben dies zulässt. Diese Ereignisfolge führt sie aus einer düsteren, von Neid, Hass und unwillkommenen Begierden dominierten sowie platonischer Amnesie gekennzeichneten Situation zu größtmöglicher, auch erotischer Freiheit. Dieser Freiheits- und Befreiungsdrang ist von Beginn an in ihr angelegt.
Schon als der Puppenspieler sie nach dem Bilde seiner tragisch verunglückten Cousine formt, ganz offensichtlich in der Absicht, seine erotischen Gelüste an ihr zu befriedigen, tritt Queridas sinnlich aufgeladene Kampfeslust in ihrer reizvollen Ambivalenz zutage: Sie wird deutlich in jedem anatomischen Detail der Komposition ihres Puppenkörpers und in ihren ersten Erlebnissen in der Welt der Menschen, in ihrer radikalen Materialisierung. Der Puppenspieler versucht, sie in ihrer Vergegenständlichung zu fixieren; sobald er bemerkt, dass er die Macht über sie verliert, indem sie eine ganzheitliche Persönlichkeit entwickelt, greift er auf die Methode der anatomischen Fragmentierung zurück. Querida jedoch entzieht sich ihrer Reduzierung mit allen ihr verfügbaren Mitteln. Sie lässt sich nur für eine begrenzte Zeit an Marionettenfäden führen, mit deren Hilfe ihr Peiniger ihr sogar die Zustimmung zu seinen Perversionen abringen will, als hätte sie Kleists „Marionettentheater“ gelesen, und stellt die Welt hinter der Bühne als missratenes theatrum mundi bloß. Und das, obwohl sie das denkbare (und undenkbare) Höchstmaß an Gewalt und Zerstörung erfährt, nicht nur von ihrem Erbauer, sondern auch von einem triebgesteuerten Kutscher und einem Teufelskumpan mit dem latinisierten Namen Coppelius. Dieser geht sogar so weit, der Puppe die Augen auszustechen und zu stehlen, so dass sie einen Teil ihrer Geschichte ohne das primäre Sinnesorgan verbringen muss – gleichsam eine pervertierte Medusa. Nur für ein Weilchen – und auch nur im Mikrokosmos des Puppentheaters – sieht es so aus, als sei Querida den Übeltätern unterlegen, wenn es nämlich ihrem Erzeuger gelingt, die anderen Puppen gegen sie aufzuhetzen und sie mithilfe von Folterwerkzeugen zur Gespielin jedes beliebigen Besuchers zu machen. Aus dieser Bedrängnis schafft sie es schließlich mithilfe ihrer Freunde, dem in sie verliebten Riesen Mangiafuoco, dem von einem erotischen Hauch umwehten Romeo und der feenartigen Frau mit dem tiefblauen Namen Indigo; doch lässt der Text keinen Zweifel an Queridas ungebrochener Kraft und der Möglichkeit, dass sie es auch ohne Mangiafuoco, den Feuerfresser als einer Karikatur des Titanen Prometheus, und die beiden ätherischen Wesen geschafft hätte.
Am Ende steht eine denkbar brutale Rache, die es in jeder Hinsicht mit den aus dem antiken Mythos oder der Bibel bekannten Grausamkeiten aufnehmen kann: Der gewaltige Mangiafuoco, inzwischen eine Art Lebensgefährte der Querida, metzelt den diabolischen Coppelius durch Kopfabbiss, und Querida selbst meuchelt den Puppenspieler auf der Bühne des theatrum mundi und zeigt damit nicht nur, dass das Leben immer auch ein Kommunikationsdrama ist, sondern auch, dass die Gemengelage von Schein und Sein, Kunst und Leben, ja Kunst und Natur eine hochkomplexe ist und dem Betrachter beständige Gratwanderungen abverlangt. Nicht umsonst gibt es eine aufreizende Spannung in Querida selbst als gleichsam verstetigter Metamorphose (Ovid findet ebenfalls kurz Erwähnung) von Mensch und Puppe, von Original und gegen dieses aufbegehrender Kopie.
Produktionsästhetisch und motivgeschichtlich gesprochen, werden wir hier zugleich der ganzen Palette künstlerischen Schaffens im Spannungsfeld von Natur und Kultur gewahr: eine vielschichtige Variante des Konzepts des Künstlers als „alter deus“, als gottgleicher Produzent. Dabei ist auf der Handlungsebene zunächst an den Puppenbauer zu denken, aber auch die anderen Figuren versuchen sich, mehr oder weniger erfolgreich, daran, die Grenzen der (poetisch überformten) Wirklichkeit zu überschreiten. Auf einer poetologischen Metaebene wirkt das freilich auch auf den Künstler, die Künstler zurück, die das Werk geschaffen haben: den Autor des Buches und seine – im besten Sinne des Wortes – Adjutanten in Wort und Bild.
Dem Autor Atanes gelingt es dabei, die verschiedensten Motive aus der Literatur der Jahrtausende aufzugreifen und aufeinander zu beziehen. Das geschieht allerdings niemals in einer allzu mittelbaren Art und Weise, sondern lässt zahlreiche Spielräume für subtile Adaptionen, Verschränkungen und Verfremdungen. Das Panorama reicht vom antiken Bildhauer Pygmalion, dem es mit Hilfe der Aphrodite-Venus gelingt, der von ihm erschaffenen geliebten Statue Leben einzuhauchen, über Edgar Allan Poe und E.T.A.Hoffmanns unheimliche Puppe Olympia bis zu Carlo Collodis Pinocchio, zu dessen Entourage ebenfalls Grille, Fuchs und Katze gehören. Doch auch die blauhaarige Undine, die schockierende Medusa, die in einer Kiste eingeschlossene Danae, Narziss und seine gespiegelte Selbsterkenntnis-Problematik, Phaethons dramatischer Sonnenwagenflug und Mary Shelleys Frankenstein scheinen aus dem Textgeflecht hervor, neben den Silhouetten vieler weiterer Figuren aus Mythos und Märchen – nicht zuletzt spricht der Name des Freundes Romeo Bände. Sie alle sind zu einem eindrucksvollen, assoziativen Kosmos verdichtet, den vor allem die Protagonistin Querida auf ihren schönen hölzernen Schultern bzw. Armen trägt – die zeitweise zur ‚Ver-Fadung‘ durchbohrt sind, als würde sie eben jene Hypothek der gesamten literarischen Motivik darauf tragen. Doch sie schafft es, diese Last abzuschütteln, ohne den Zauber der Erinnerung an diese preiszugeben.
So überwiegt der Eindruck einer berückenden Leichtigkeit, der nicht nur durch die intrinsischen Perspektivwechsel forciert wird, insofern mal aus der dritten Person erzählt wird, mal aus der ersten in der Person Queridas, sondern auch durch den behenden, beschwingten Stil des Autors Atanes: Die (nirgends überbordende) Neigung zu Ellipsen und Asyndesen, zu Oppositionen und Antithesen trägt dazu bei, die Illusionen zu durchbrechen und die Unterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion zu nivellieren. Auf einen Nenner gebracht, gipfelt diese Kunst in der im Roman begegnenden Junktur einer „illusorischen Nichtexistenz“.
Melanie Möller /2024