QUERIDA
Ausführliche Zusammenfassung:
Ort und Zeit der Handlung sind nicht genauer beschrieben. Details lassen darauf schließen, dass das Geschehen in einem mitteleuropäischen Land (Region Elsass/Baden Württemberg) im 19. Jahrhundert zu verorten ist.
Mit den Worten „Es war einmal…“ setzt die Erzählung mit dem Zusammenbau der Puppe Querida durch ihren Schöpfer ein. Die außergewöhnliche Erlesenheit ihrer Einzelteile wird beschrieben, die Besonderheit des Haares, welches von der von ihm so begehrten, aber verstorbenen Cousine stammt. Nach ihr ist die gesamte Physiognomie der Marionette geformt. Beschrieben werden die Gefühle des Puppenbauers und die aufkeimende Eifersucht der anderen Puppen, die dem Vorgang beiwohnen. Es folgen, in einer Rückblende, Erinnerungsbruchstücke aus dem Bewusstsein der Cousine, in denen ihr gewaltsamer Tod und seine Verwicklung darin angedeutet werden. Offensichtlich kommt es im Fortlauf der Geschichte zu Übergriffen des Puppenspielers, der Querida mittels der Spielfäden zu nicht näher beschriebenen sexuellen Handlungen manipuliert.
Querida verfügt, wie die übrigen Puppen auch, über ein Bewusstsein und die Fähigkeit zur Wahrnehmung. Zu einem gewissen Maß ist es ihr sogar möglich aktiv in das Geschehen einzugreifen. Wir sehen hierzu eine Szene, in der vier englische Touristen den Puppenmacher besuchen. Es handelt sich dabei um das Ehepaar Mary und Percy Shelley, Lord Byron und Dr. Polidori, die naturgemäß sehr an seiner Arbeit interessiert sind. Der einzelgängerische Puppenmacher ist dem Besuch zunächst abgeneigt, wird aber von Querida dahingehend beeinflusst, dem Wunsch der Engländer nachzukommen, um sie, als seine neueste Kreation, in äußerst delikater Art und Weise zu präsentieren und so einen unglaublichen Eindruck bei den Engländern zu hinterlassen.
Neid und Ungunst ihrer Mitpuppen wachsen. Trotz des weiter anhaltenden missbräuchlichen Verhaltens des Puppenmachers ihr gegenüber, entwickelt sich (durch die Besonderheit ihrer Ausführung und ihrer Stellung zum Meister) ein zunehmend feindliches Verhalten, welches letzten Endes darin gipfelt, dass Querida in einem unbeaufsichtigten Moment (der Puppenmacher ist mit der Näherin der Puppenkleider beschäftigt) von ihren Mitkollegen aus dem Fenster des Dachbodens geworfen wird.
Sie landet auf einem Abfallhaufen im Hof und kommt so in Kontakt mit der Grille, die ihr im Laufe eines längeren Gespräches allerhand Einsichten und Weisheiten vermittelt. Die wesentlichste Information dabei ist die Tatsache, dass sich die Puppe Querida durch den Kuss eines geflügelten Wesens, wie von einem Schmetterling, Kolibri, oder einer Libelle in eine tatsächliche Frau aus Fleisch und Blut verwandeln kann. Allerdings hält der Zauber nur bis zur Mitternacht des jeweiligen Tages. Gesagt, getan, Queridas Verwandlung geschieht, doch infolge einer unachtsamen Bewegung ihres neuen Körpers kommt die Grille zu Tode. Querida fasst sich ein Herz und flieht.
Auf der nun folgenden Reise erlebt Querida eine Reihe von Abenteuern. Sie trifft unterschiedliche Charaktere, von denen manche ihre unbedarfte, naive Wesensart ausnutzen. Die wankelmütige, nicht ganz helle Vogelscheuche, Katze und Fuchs, die sich als ihre Freunde ausgeben um sie dann hinterhältig zu missbrauchen, die eingebildete Schnecke, die sie an ein Gewässer führt, in dem sie schließlich dem Geist ihres eigentlichen Alter Egos begegnet, der verunglückten Cousine, der sie nachgebildet ist und in die sie sich augenblicklich verliebt. Doch ihre Reise endet abrupt und Querida fällt zurück in die Hände ihres Peinigers.
Wir finden Querida nun wieder im Haus des zunehmend verwahrlosenden Puppenmachers. Versteckt in einer Kiste wird sie von ihm nur nachts herausgenommen, um dem Betrunkenen dann zum Amüsement zu dienen. Eines frühen Morgens erhält der Puppenmacher Besuch. Es ist der Kutscher, ebenfalls ein Sammler von Puppen und ein Finanzier des Puppenspielers, der beträchtliche Schulden bei ihm hat. Der Kutscher hatte die vier englischen Reisenden zuvor als Fahrgäste und weiß daher von der neuen Kreation seines Schuldners, einer weiblichen Puppe von unvergleichlicher Schönheit. Querida, die vermeintliche Rettung vor den Augen, kann sich in ihrem Versteck bemerkbar machen und wird zum großen Entsetzen ihres Schöpfers vom Kutscher entdeckt. Die lediglich mit Strümpfen bekleidete Puppe zieht aber nicht nur den Kutscher in ihren Bann, denn dieser hat einen Gast mitgebracht: durch die Tür tritt der unheimliche Coppelius.
Coppelius ist ein finsterer Charakter, der sich unter anderem mit menschlichen Nachbildungen und Automaten beschäftigt. Er ist extrem interessiert an der Mechanik Queridas, und es folgt eine ausgedehnte Untersuchung. Der Puppenspieler folgt dem Geschehen paralysiert und mit den größten Befürchtungen, niedergestreckt auf sein Lager, doch in dem Moment, als die beiden Rohlinge Hand an Queridas Haar legen, verliert er die Nerven und es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung. In der Hitze des Gefechts gelingt es Coppelius, die Augen, Hände und Füße der Puppe zu demontieren und zu entfliehen. Die Ungeheuerlichkeit dieses Gewaltaktes führt zu einer polizeilichen Untersuchung und zur vorübergehenden Festsetzung des Puppenspielers.
Dieser versteckt die zerstörte Puppe zunächst in einer Kammer des Brunnenschachts. Alsbald wird sie jedoch von der blauhaarigen Näherin entdeckt. Dieses Wesen ist natürlich eine gute Fee, die sich um Querida kümmert und sie auch weitestgehend wieder instand setzen kann. Ihr Name ist Indigo und während der Genesung entwickelt sich eine kurze, sehr sinnliche Beziehung zwischen den beiden. Queridas verlorene Hände und Füsse können wieder angebracht werden, die Augäpfel allerdings bleiben verschollen, und sie durchlebt eine weitere Verwandlung zu Fleisch und Blut. Als der Puppenmacher freikommt, muss Indigo Querida verlassen, doch sie gibt ihr einen treuen Diener zur Hand, Romeo, einen geflügelten Phallus, der die blinde Puppe zukünftig führt und ihr jeden Wunsch erfüllt.
Ihr verhasster Schöpfer kehrt zurück. In der Erzählung gibt es immer wieder Szenen, in denen Querida die Empfindungen ihres Körpers ambig deutet. Situationen, in denen sich die ansonsten durchgängige Verachtung für ihren Peiniger, wie bei einem Opfer des Stockholmsyndroms, kurzzeitig in das Gegenteil umzuschlagen scheint. Doch es finden sich in dieser verwirrten Phase ebenso Beschreibungen ihrer Rache- und Gewaltfantasien.
Der Puppenmacher hat nach seiner Haft dringenden Geldbedarf. Er verfällt auf die Idee, mit Querida vor zahlendem Publikum und Einzelpersonen private erotische Vorstellungen zu aufzuführen. So lernt sie Mangiafuoco kennen, einen rohen, furchterregenden, riesigen Mann. Er zahlt fünf Goldmünzen für eine Privatvorstellung, aber der Anblick der auf diese Art und Weise vorgeführten blinden Puppe bereitet ihm Unbehagen und er verlässt die Vorstellung abrupt. Im selben Augenblick gelingt es Romeo, sie von ihren Fesseln zu befreien und an ihn geklammert steigen beide in die Lüfte auf. Nach einem fantastischen Flug durch die Himmelssphären, lässt er Querida aus sicherer Höhe unbemerkt in die Manteltasche des Riesen gleiten, der trübsinnig auf einer Brücke am Geländer lehnt und die Zeit totzuschlagen scheint.
In dieser Nacht landet sie in der Wohnung Mangiafuocos. Der Riese hat sich offensichtlich in die Puppe verliebt, weiß aber natürlich nicht, dass sie sich in seiner unmittelbaren Nähe befindet. Er spielt ein herzzerreißendes Lied auf seiner Violine und fällt weinend und ihren Namen flüsternd in den Schlaf. Querida, immer noch in der Tasche des am Haken aufgehängten Mantels, ist vollkommen angerührt von diesem Beweis seiner Liebe und in einem Traum wandert sie über den Körper ihres schlafenden Riesen. Diese Erkundungstour führt bei Mangiafouco zu einem sexuellen Höhepunkt, der Riese ist nun gezähmt und wird zu ihrem Verbündeten.
Die sich von da an entspinnende Liebesbeziehung der beiden ist zart und humorvoll. Tatsächlich entwickelt sich eine ungleichgewichtige Dreiecksbeziehung, da Romeo seine loyale Rolle nicht aufgibt und Querida sich über die zukünftige Bedeutung des fliegenden Priapus, dem sie nach wie vor sehr verbunden ist, nicht klar werden kann. Der Riese, langmütig und großherzig, birgt neben seinem musikalischen Wesen einige weitere Geheimnisse. Er ist ein großer Literaturkenner, der der blinden Querida allabendlich aus seinen geliebten Büchern vorliest und er verdient sich seinen Lebensunterhalt auf äußerst makabre Art: Er handelt mit Leichen, die er auch selbst ausgräbt. Tatsächlich gibt es hier eine Verbindung zu der verstorbenen Cousine, deren Grab er einst öffnete, um dem Puppenmacher das Haar zu besorgen.
Zu dritt machen sie sich auf den Weg, um Coppelius zu finden und Queridas Augäpfel wiederzuerlangen, und tatsächlich können sie den Schurken aufspüren. In einer unterirdischen Festungsanlage, inmitten einer Sammlung unzähliger geraubter Augenpaare, fällt der Bösewicht in die Hände des Riesen Mangiafuoco, der ihm ungerührt den Kopf abbeißt.
Indigo setzt Querida die wiedergefundenen Augäpfel ein. Die Puppe ist beglückt, doch sie sehnt sich stark nach ihrem Körper aus Fleisch und Blut. Da erscheint ihr die totgeglaubte Grille erneut und verwandelt Querida durch einen intimen Kuss ein drittes Mal zu einer tatsächlichen Frau.
In diesem Zustand beschließt Querida, ihren Schöpfer zu töten. Sie will die Gunst der Stunde nutzen und ihn in der folgenden abendlichen Aufführung auf offener Bühne überwältigen und richten. Sie verbittet sich jede Einmischung ihrer beiden treuen Freunde, die bestürzt sind, aber spüren, dass sie sich fügen müssen. Ihren Beschluss verkündet sie bei einem letzten Abendmahl und da die Sache nicht zwangsläufig gut für sie ausgehen muss, verfügt Querida in einem Testament, wie im Falle der Fälle mit ihren Überresten zu verfahren sei.
Sie kehrt zurück in den Spind, in dem sie üblicherweise aufbewahrt wird. Als der Puppenspieler sie aus dem Schrank nimmt, um die Marionette für die Aufführung vorzubereiten, Fäden und Schnüre anzulegen, muss er die Veränderungen an ihrem Körper bemerken. Doch er bleibt ungerührt und behandelt sie mit gleichgültiger Grobheit. Zu einem Bündel zusammengeschnürt, wird Querida von ihm vor die johlende Menge auf die Bühne gezerrt und das Spiel beginnt. Im Laufe der grotesken, sich in ihrer Gewalttätigkeit steigernden Darstellung der Erniedrigungen, läuft sie schließlich Gefahr stranguliert zu werden. Sie ist kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, als ein Insekt, (es ist die Grille) dem Puppenspieler ins Gesicht fliegt und ihn für Sekunden aus dem Gleichgewicht bringt. Als er nach der Grille schlägt, entgleiten ihm die Seile und dieser Moment genügt, um das Blatt zu wenden. Querida kommt obenauf, kaum jemand kennt sich besser aus mit den Schnüren als sie. Das Publikum ist von dem Dreh der Darstellung mitgerissen und unter dem Geschrei der randalierenden Menge haucht der Puppenspieler sein Leben aus.
Nachdem sich das Zelt geleert hat, tritt ein junger Mann zu Querida. Da es ungefähr Mitternacht ist und sie um die Begrenztheit des Zaubers ihrer Verwandlung weiß, hatte Querida zuvor die Taschenuhr des Puppenspielers ergriffen. Im Sprungdeckel erkennt sie das Portrait eines mit ihr identischen Mädchens. Die Uhr zeigt kurz vor zwölf. Sie möchte Gewissheit und fragt den Jungen nach der Uhrzeit. Nachdem dieser sich als angehender Puppenspieler (und Verehrer) zu erkennen gibt, zückt er eine identische Uhr. Auf diesem Ziffernblatt steht: zehn nach zwölf! An dieser Stelle beendet Querida die Unterhaltung mit den Worten „… und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich wohl noch heute.“
Im darauffolgenden Epilog nehmen Querida und Mangiafuoco Abschied von ihren treuen Freunden. Sie verlassen den Ort, der für die Puppe so viel Leid, aber auch Freude barg, und brechen auf zu neuen Ufern. Die Köpfe der gehässigen Mitpuppen schleifen hinter ihrer Kutsche nach, wie die angehängten Dosen am Wagen von Frischvermählten, als das Gefährt zuletzt in den Strahlen der aufgehenden Sonne entschwindet.
Charakterisierung der Hauptfiguren:
Die Puppe Querida
Obwohl das Märchen sich mit seinen Hauptfiguren stark an Collodis Pinocchio anlehnt, scheint Querida auf Anhieb eher der Figur der Justine de Sades verwandt. Gerade in den anfänglichen Wirren ihres Daseins ist sie, wegen ihrer Unbedarftheit und tatsächlichen körperlichen Schwäche, immer wieder das Opfer von Niederträchtigkeit, Täuschung und sexueller Unterdrückung. Anders als Justine, durchlebt der Charakter allerdings eine Entwicklung, die mit der Tötung des Peinigers in ihrer Befreiung und Selbstbestimmtheit gipfelt. Wesentlich ist dabei der unerlöste Geist der getöteten Cousine, der über das Haar in die Puppe kommt und die Wandlung der Justine in eine Lilith der jüdisch feministischer Theologie herbeiführt, die in positiver Art und Weise die gelehrte, starke und selbstbestimmte Frau symbolisiert.
Der Puppenmacher
Auch in diesem Fall ist die Figur nicht dem Geppetto Collodis nachempfunden. Dem nicht näher beschriebenen Charakter können unterschiedliche Beweggründe unterstellt werden, wobei das klassische Pygmalion-Motiv zu kurz zu greifen scheint, denn wir sehen düstere Züge, die an E. A. Poes Bernadice erinnern (die Obsession mit physischen Attributen der Verstorbenen die Zähne/das Haar). Gleichzeitig lässt sich die Puppe als narzisstisch belegte Projektionsfläche männlicher Begierde (ähnlich wie in E.T.A. Hoffmanns Sandmann) deuten und schließlich (de Sade wurde ja bereits erwähnt) erinnern die erotischen und sexuellen Motivationen natürlich an Hans Bellmer. Keiner dieser Beweggründe ist im Einzelnen weiter ausgeführt, die Beschreibung des Puppenbauers ist nur in Bezug auf seine prächtigen Zähne genauer, sie stehen allgemein für Sexualität, Behauptung, Macht und Aggression.
Mangiafuoco
Mangiafuoco ist eine zwiespältige Figur, die zunächst einen groben, gewalttätigen, Charakter vermuten lässt. Bei genauerer Betrachtung aber erkennen wir, dass er wie Querida ein Außenseiter und Ausgestoßener ist. Sie haben eine seltsame, unwirkliche Begegnung und werden so zu einem Paar, das in seiner Gegensätzlichkeit so ungewöhnlich wie fantastisch ist. Er stellt als Riese einen Über-Helden dar, größer und stärker als alle anderen und natürlich auch ungehobelter, aber seine Seele ist absolut rein. So wird er das perfekte Passstück für Querida. Er eröffnet ihr die Welt der Musik und Literatur und ist der Nährboden, durch den die Entwicklung der Puppe/Cousine in Fahrt kommt.
Darstellung des Themas:
Die Erzählung ist formal und inhaltlich als Märchen angelegt. Der klassische Eröffnungssatz setzt den Ton und findet seine Entsprechung im letzten Satz. Dementsprechend ist die Handlung fantastisch und nicht realitätsgetreu, es gibt märchenhafte Widersprüche und Ungereimtheiten die der Entwicklung des Plots aber nicht zuwiderlaufen.
Darüber hinaus finden sich im formalen Aufbau Parallelen zu literarischen Werken des Barock wie z.B. Grimmelshausens "Simplicissimus" oder Cervantes' "Don Quijote".
Das erotische Sujet im Textteil ist sprachlich meist nur angedeutet, selten direkt und dann sehr delikat und humorvoll geschildert. Die Illustrationen sind im Original deutlich expliziter angelegt, in der Erzählung werden die entscheidenden Partien durch Blüten abgedeckt, ein reizvoller Effekt, der mit der Phantasie des Betrachters spielt. (Eine Version mit den unzensierten Illustrationen wäre als „Director's Cut /+18“denkbar)
Neben dem eigentlich beschriebenen Handlungsstrang gibt es eine Reihe kurzer, tiefergehender Betrachtungen zu thematisch übergeordneten Aspekten, wie z.B. das Verhältnis des Erschaffenden zu seiner Kreation (auch in der göttlich-religiösen Spielart), die Frage des Bewusstseins von lebhaften und leblosen Dingen bzw. die unterschiedlicher Realitäts- und Zeitebenen, sexuelle Übergriffigkeit und Machtmissbrauch, erotisches Begehren, Fetisch, Selbsterkenntnis, Selbstbestimmtheit und natürlich Hingabe und Liebe.
Das Buch gliedert sich in 36 Kapitel, denen jeweils ganzseitige Illustrationen beiseite gestellt sind. Zusätzliche grafische Momente ergeben sich aus zahlreichen extra gestalteten Initialen.